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Unrecht vergeht nie

Die Welt, 16. August 2014, von Andrea Raschèr

Wie kann Vergangenheit durch Genugtuung bewältigt werden? Erstmals erörtert ein Buch Entschädigungspolitik in globaler Perspektive

Die hehren Ansprüche, die der Historiker Berthold Unfried an sein Buch „Vergangenes Unrecht“ stellt, vermag niemand zu bewältigen. Entschädigung und Unrecht will er in nicht bloß in eine überregionale, sondern gar in eine globale Perspektive rücken. Er weiß, dass er mit dieser Aufgabe ein „unübersichtliches, emotionsgeladenes und politisch vermintes Themenfeld“ betritt.

Unfried forschte von 1999 bis 2003 in der österreichischen Historikerkommission zu Fragen des Vermögensentzugs während der NS-Zeit. Nach diesem Engagement soll er das vorliegende Buch verfasst haben. Im langen Entstehungsprozess von einem Jahrzehnt liegt angesichts der markanten Veränderungen des Fachbereichs sowohl die Stärke wie die Schwäche des Werks. Nicht alle Beiträge konnten in gleicher Weise aktualisiert werden, nicht alle Kontinente haben gleichermaßen Berücksichtigung gefunden: Restitutionsdebatten auf dem asiatischen Kontinent bleiben bedauerlicherweise unerwähnt.

Hinter diesem Werk stehe der Wille, weltweit unterschiedliche Entschädigungspolitiken miteinander zu vergleichen. Als impulsgebend nennt er die Beobachtung, dass in der Politik historische Fragen zunehmend thematisiert werden, um Interessen durchzusetzen. Der Historiker Unfried reflektiert sein eigenes Tun und das seines Fachs, indem er fragt: Inwiefern haben Fachleute dazu beigetragen, die Vergangenheit als Ressource zu nutzen, ehe Geschichte zur Handels-Ware wurde? Es ist unter anderem jener (selbst)kritische Ansatz, durch den das Buch lesenswert wird. Unfried protokolliert seine Positionen und die Beweggründe für deren Verschiebung. Guten Glaubens erfüllte er eine Pflicht, wie es die Öffentlichkeit um die Jahrtausendwende von solchen Kommissionen erwartete. Überzeugt davon, dass eine ausgleichende Gerechtigkeit mit Hilfe historischer Forschung wenigstens annähernd erreicht werden könne, trat er seine Kommissionsarbeit an, wollte das Seinige dazu beitragen, dass Restitutionsansprüchen genüge getan wird. Nach und nach musste er erfahren, dass das vergangene Unrecht nicht abschließend bewältigt werden kann. Über Generationen hinweg werden Forderungen nach Restitution und Ausgleich unter neuen Vorzeichen immer wieder gestellt.

Als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen wählt Unfried die europäische Bewegung zur Entschädigung von Vermögensverlusten im NS-Regime seit Anfang der 1990er Jahren in Ost-, anschließend Mitteleuropa und den USA. Damals wurde bekannt, dass Schweizer Banken nicht ausgezahlte Konten von NS-Opfern veruntreut und Österreich sich an arisierten Kulturgütern bereichert hatten. Unfried setzt diese europäischen Ereignisse in den Kontext anderer Entschädigungsdebatten wie jener in Südafrika oder Lateinamerika. Diese erweiterte Perspektive ermöglicht differenziertere Interpretationen, die ihm vor allem durch einen neuen Ansatz gelingen: Dem systemischen Vergleich der Tätigkeit der Wahrheitskommissionen im Zusammenhang mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime sowie den lateinamerikanischen Diktaturen einerseits und andererseits den Historikerkommissionen in Europa im Zusammenhang mit der Entschädigung von NS-Unrecht. Akribisch stellt er deren Hintergründe, Argumentationen, Methoden und Arbeitsweisen in Relation. Dies, indem er auch die Beziehungen der beteiligten Anwälte, Organisationen, Unternehmen, Banken, Staaten, Opfer sowie deren Nachkommen, Juristinnen, Historiker und Medienschaffende in ihrer Wechselseitigkeit berücksichtigt.

In dieser Betrachtungsweise, über die simple Dichotomie von Tätern und Opfern hinausgehend, vermag der Autor delikate Interessengeflechte zu präsentieren und ungewohnte Folgerungen zu ziehen. In gegenwärtigen Entschädigungsrunden beispielsweise sieht Unfried keine Korrektur der Unzulänglichkeiten der Restitutionsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Viel eher seien sie – einer eigenen Logik folgend – als eigenständige, neue Entschädigungsphase zu verstehen. Diese These begründet er damit, dass die USA mittlerweile auf dem europäischen Kontinent die Deutungshoheit übernommen haben und damit anerkannt sind. Dass er dies mit umfangreichem Faktenmaterial spannend zu belegen weiß, führt zu einem über 500 Seiten starken und doch leicht bewältigbaren Werk.

In Sachen Kunstrückgabe stehen der Fall Bloch-Bauer mit den Klimt-Gemälden in Österreich sowie der Fall Goudstikker in den Niederlanden im Mittelpunkt. Unfried präsentiert diese exemplarisch um die Mechanismen aufzuzeigen, mit denen Beteiligte ihre Interessen durchsetzen. Die so genannten „Provenienzforschenden“ betreiben keine über den Einzelfall hinausgehende Forschung, kritisiert der Autor, sondern zweckorientierte Recherche. Mit ihrer Arbeit verfolgen sie das Ziel, herauszufinden, ob ein Kunstobjekt zu einem Restitutionsfall werden könnte. Unfried urteilt: „Der Staat sieht es als sein Interesse an, beanspruchte Objekte möglichst herauszugeben und gelobt zu werden.“ Mit seiner Schilderung wird begreiflich, weshalb dieser Aspekt so umstritten ist mit der Folge, dass solche Fälle „prinzipiell unabschließbar“ und damit in letzter Konsequenz „unverjährbar“ sind. An dieser Stelle fehlt bedauerlicherweise die globale Untersuchung der rechtlichen Rahmenbedingungen, welche diese Perpetuierungsthese in einen größeren rechtlichen Zusammenhang gebracht hätte.

Die Leselust wird durch die gelungene Mischung aus packend erzählten exemplarischen Fällen, nachvollziehbaren Argumentationen und den stringenten Folgerungen gefördert. Dies nicht nur trotz, sondern erst recht durch reichhaltige historische Fakten. Pointiert verdeutlicht er die Entwicklungen: „Die Formen von Entschädigung haben sich seit den 1970er Jahren von affirmative-action-ähnlichen Stipendien- und Gesundheitsfürsorgeprogrammen hin zu geldorientierteren Formen wie Glücksspiellizenzen für Indianerreservate, zu Landrestitutionen und zu monetären Entschädigungen bewegt.“

Unfried lenkt den Blick weg von der ausschließlich nordamerikanisch/europäischen Sichtweise auf einen überkontinentalen Kontext. In dieser Hinsicht ist das Buch einzigartig. Es übertrifft durch die facettenreiche Darstellung die bisherigen Publikationen des Fachbereichs in deutscher und englischer Sprache und bietet einen enormen Fundus an Fakten und Analysen. Der Anspruch des Autors, das Thema Restitution von der emotional-politisch-monetären auf die historisch-faktische Ebene zu bringen, kann als erfüllt gelten. Mag sein, dass Restitiutionsansprüche kein Ende finden und die Vergangenheit nicht mit juristisch-politischen Genugtuungsformeln bewältigt werden kann. Unfried setzt mit diesem Buch keinen Schlusspunkt, im Gegenteil, er gibt seinem unermüdlichen Streben – nomen est omen – auf nüchtern-analytische Weise nach und tut dies auf eine Weise, wie es dem kritischen Potenzial der historischen Forschung im ureigentlichen Sinne inhärent ist.

Ungeachtet seiner Einsicht, dass gewaltsames Unrecht nicht zu bewältigen ist, hat Unfried dieses Buch publiziert und damit offensichtlich das Streben danach nicht aufgegeben. Demokratische Gesellschaften, denen die Gleichheit aller Menschen als ehrenvoller Wert zugrunde liegt, sollten in der Konsequenz zumindest versuchen, verantwortungsvoll einen möglichst gerechten Ausgleich zu erreichen. Für solche gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bietet Unfrieds Buch eine überwältigend solide Diskussionsgrundlage.

Berthold Unfried: Vergangenes Unrecht – Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive, Göttingen 2014


2014.08.15_-_Welt_-_Unfried.pdf


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