Andrea Raschèr: Der Mythos des «Gentleman-Diebs» hält sich zwar hartnäckig. Doch es handelt sich beim Kunstraub im Louvre um organisierte Kriminalität. Um einen solchen Raub durchzuziehen, die Beute zu verschieben, zu verstecken, zu lagern, ist eine Infrastruktur und die nötige Logistik Voraussetzung. Es braucht ähnliche Strukturen wie beim Menschen-, Drogen- und beim Waffenhandel.
Wie beim Bankräuber kann man sein Psychogramm am ehesten mit dem eines Söldners vergleichen, der an der Front den gefährlichen Teil der Arbeit erledigt: Er stammt oft aus Kriegsgegenden oder war Mitglied einer militärischen Spezialeinheit.
Ja, bei bestimmten Auftraggebenden, und ich gehe von einem Auftragsdiebstahl aus, spielt die Triade von Gier, Geilheit, Gewalt eine Rolle. Sammler mit Interesse für imperiale Figuren zum Beispiel, Oligarchen, Grossindustrielle. Sie wollen mit dem Schmuckstück vor allem dessen machtvolle Geschichte besitzen.
Nicht, wenn man ihn Gleichgesinnten zeigt. Und nicht, wenn der Auftraggeber aus einer Gegend stammt, wo feudale, mafiöse oder clanmässige Strukturen herrschen und wo man sich mit einer solchen Tat möglicherweise Respekt verschafft. Anders ist es, wenn der Auftraggeber die brutale Methode anwendet.
Die Rohstoffe zu Geld machen, das Gold einschmelzen und die Steine neu schleifen. Die grösste Goldmünze der Welt, die sogenannte «Big Maple Leaf», wurde im Jahr 2017 aus dem Bode-Museum in Berlin gestohlen. Die Münze wog 100 Kilogramm und hatte einen Nennwert von einer Million kanadischen Dollar. Die Diebe sind Mitglieder eines berüchtigten Berliner Familienclans. Sie hievten die Münze aus dem Fenster des schlecht gesicherten Museums und brachten sie mit einer Schubkarre zum Fluchtfahrzeug. Sie wurde eingeschmolzen, das Gold verkauft.
Sie werden herausgelöst und neu geschliffen. Bei Stücken dieser Bedeutung sind die Exponate natürlich äusserst gut dokumentiert. Es wird von jeder geschliffenen Facette der Steine hochaufgelöste Bilder geben. Wenn man die Steine zu Geld machen will, werden sie neu geschliffen, um weniger einfach rückverfolgbar zu sein.
Organisierte Kriminalität ist pure Wirtschaft. Die Mitglieder haben Zugang zu allen möglichen Spezialistinnen und sicher auch zu jemandem, der das Schleifen von Edelsteinen perfekt kann.
Das «Artnapping» ist durchaus eine Möglichkeit. Bei einem Staatsschatz wie diesem könnte man auch politische Elemente ins Spiel bringen, Schmuck gegen die Freilassung eines Gefangenen zum Beispiel. Wer sich nicht rasch auf die Lösegeldforderungen einlässt, riskiert einen nicht mehr wieder gutzumachenden Verlust. Bei Gemälden liegt die Höhe des Lösegeldes üblicherweise bei zehn bis zwanzig Prozent des Marktwertes.
Nein, offiziell gab es das bisher nicht. Es gilt auch hier der Standardsatz: «We don’t negotiate with Terrorists.» Bei Erpressung hat der Staat immer ein Problem.
Einerseits muss er die Kriminellen verhaften, anderseits will er, dass die Exponate wieder heil zurückkommen. Beim Kunstraub im «Grünen Gewölbe» in Dresden 2019 wurden die Diebe gefasst. Der Berliner Clan hat mit der Besitzerfamilie einen Deal gemacht. Man hat wohl gegen ein tieferes Strafmass die Stücke zurückerhalten. Es war kein Weihnachtswunder, dass die Beute sichergestellt werden konnte. Auch im Fall von Paris wird man sich pragmatisch zeigen müssen. Es handelt sich nicht um einen Kühlschrank, die Stücke haben einen immensen historischen Wert.
Erfahrungsgemäss ist die Aufklärungsquote gering, doch möglich ist immer alles. Die bewaffneten Männer, die im Februar 2008 das Kunsthaus Zürich überfielen und vier Gemälde aus der Sammlung Bührle raubten, wurden durch Undercover-Ermittler in Belgrad in eine Falle gelockt und verhaftet. Zwei Gemälde fand man wenige Tage nach dem Raub auf dem Parkplatz der psychiatrischen Klinik Burghölzli. Die beiden anderen wurden vier Jahre später in beschädigtem Zustand in der Nähe von Belgrad sichergestellt. Wenn in Paris Spuren hinterlassen wurden, wäre eine Aufklärung möglich.
Die meisten Museen haben ihre Sicherheitsprobleme, auch in der Schweiz! Das ist systemimmanent.
Für das Museum des 19. Jahrhunderts galt, Kunst gehört allen, also muss es zugänglich sein. Es gibt den Zielkonflikt zwischen der Sicherheit der Objekte und der Zugänglichkeit für das Publikum. Gewisse Museen präsentieren Kopien und legen die Originale in den Tresor. Doch das Publikum wird darüber nicht informiert. Will man von Schmuck und von anderen Kulturgütern, die eingeschmolzen werden können, in Zukunft die Originale zeigen? Diese Frage werden sich Museen immer dringender stellen müssen. Zum Schaden der Zugänglichkeit und des Umgangs mit unserem kulturellen Erbe.
Der italienisch-schweizerische Jurist Andrea Raschèr ist ein Experte an der Schnittstelle von Kunst, Kultur und Recht. Er ist promovierter Jurist und arbeitete gleichzeitig als Theater- und Opernregisseur. In den 2000er-Jahren betreute er unter Ruth Dreifuss die Ausarbeitung des Kulturgütertransfergesetzes. Seit 2023 ist er Präsident der Unabhängigen Kommission der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte zur Klärung NS-verfolgungsbedingter Ansprüche. Er leitet ein eigenes Consultingbüro. (M.D.)